21. November 2019

Bertram Kaschek über den Fotografen Christian Borchert

Dr. Bertram Kaschek, Kurator der Ausstellung "Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung"

Intro

Bertram Kaschek war viele Jahre an der TU Dresden tätig und hat sich dort hauptsächlich mit der niederländischen und deutschen Kunst der Frühen Neuzeit sowie mit Fotografie beschäftigt. Seit 2016 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kupferstich-Kabinett und hat dort vor allem zu Christian Borchert geforscht.

Das Kupferstich-Kabinett zeigt

Das Kupferstich-Kabinett zeigt jetzt eine große Retrospektive mit verschiedenen Stationen zu Christian Borchert. Wer war Christian Borchert?

Borchert war einer der bedeutenden ostdeutschen Fotografen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er ist in Dresden-Pieschen geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Mit dem Fotografieren hat er im Alter von 12 Jahren angefangen. In seinem Werdegang spiegelt sich nicht zuletzt auch die Geschichte der künstlerischen Emanzipation der Fotografie in der DDR: Borchert hat sich von einem begeisterten Amateur zunächst zu einem Bildreporter und dann zu einem künstlerisch ambitionierten Fotografen entwickelt und ein sehr beachtliches Lebenswerk geschaffen.

Dr. Bertram Kaschek, Kurator der Ausstellung "Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung"
© SKD, Foto: Andreas Diesend
Dr. Bertram Kaschek, Kurator der Ausstellung "Christian Borchert. Tektonik der Erinnerung"

Das besondere an der Arbeit

Was ist das Besondere an seiner Arbeit?

Nach seiner Zeit als Bildreporter suchte er Distanz zur offiziellen Bildsprache der Pressefotografie. Zugleich bemühte er sich zunehmend darum, auffällige formale Effekte zu vermeiden. Er bewegte zwischen diesen Polen. Seine Bilder aus dem Alltag der DDR sind nicht im Kontext journalistischer Reportagen entstanden, sondern aus eigenem künstlerischen Antrieb. Er hat sich für seine Arbeit viel Zeit genommen, um zu Bildern zu gelangen, in denen die Menschen ganz bei sich sind. Darüber hinaus hat er sich ein großes Archiv aufgebaut, das er beständig für seine Arbeit nutzte und das als Teil seines Werkes gewertet werden kann.

Fotografien von Maria Sewcz

In den Fotografien, die Maria Sewcz nach Borcherts Tod in seiner Wohnung aufgenommen hat, wird Borcherts Leidenschaft für Archivierung und Ordnung besonders deutlich. Wie spiegelt sich dies in seiner Arbeit wider?

Das Archiv spielt eine große Rolle im Leben und in der Arbeit von Christian Borchert. Er hat es von Anfang an akribisch gepflegt und seine Bilder geordnet und sorgfältig beschriftet, sodass er immer guten Zugriff auf sie hatte. Er hat dieses Archiv aber nicht nur als Ablage von bereits gemachten Bildern genutzt, sondern es ständig konsultiert. Das heißt, er hat sich seine alten Bilder immer wieder neu angesehen, stets auf der Suche nach Motiven, die er bisher vielleicht übersehen hatte. Ihm war klar, dass die Bedeutung von Bildern sich im Laufe der Zeit ändert und dass vielleicht Motive interessant und bedeutsam werden, die vor wenigen Jahren seiner Aufmerksamkeit noch entgangen wären.

Maria Sewcz: Auszug der Seele, Ch. B., 2000
© Maria Sewcz, VG Bildkunst
Maria Sewcz: Auszug der Seele, Ch. B., 2000 Silbergelatinepapier, 194 x 290 mm, 219 x 303 mm

Wie aktuell

Wie aktuell ist seine Arbeit 30 Jahre nach dem Mauerfall?

Mit seinem archivarischen Ansatz ist Borchert überaus aktuell. Das Archiv ermöglichte ihm, im Vergangenen das Gegenwärtige zu entdecken. 30 Jahre nach dem Mauerfall und knapp 20 Jahre nach seinem frühen Tod scheinen seine Bilder ein Bedürfnis nach persönlicher und gesellschaftlicher Erinnerung zu befriedigen – für die, die dabei gewesen sind wie für Außenstehende und Nachgeborene. Zugleich hat er das historische Erinnern im Medium des Bildes selbst stets thematisiert und hinterfragt. Den Mauerfall hat Borchert mit gemischten Gefühlen erlebt. Er hat ihn zwar freudig begrüßt, gleichzeitig aber auch mit großer Sorge in die Zukunft gesehen – was man seinen Bildern auch ansieht. Diese Nahbarkeit und Verletzlichkeit des Fotografen und der Person Christian Borchert sind sicher Aspekte, die die Menschen auch gerade heute zum Wendejubiläum ansprechen.

Impressionen

Dokumentarisch und distanziertes Schaffen

Sein Schaffen wird als dokumentarisch und distanziert bezeichnet. Worin macht sich dies bemerkbar?

Beispielhaft zeigt sich das an der Gattung des Porträts. Anders als viele Porträtfotografen vermeidet er fast immer die starke Nahaufnahme des menschlichen Gesichts. Er bewahrt immer einen gewissen Abstand, und das hat sicher zwei Funktionen: Zum einen möchte er die Betrachter des Bildes nicht emotional total vereinnahmen, was bei Nahaufnahmen des Gesichts schnell der Fall sein kann. Er möchte den Betrachtenden Raum geben, sich ein eigenes Urteil zu bilden. Zum anderen möchte er natürlich auch Informationen liefern über die Kontexte einer solchen Aufnahme. Darin spiegelt sich der dokumentarische Aspekt seiner Arbeit.

Christian Borchert, Volker Braun, 1976
© Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Andreas Diesend
Christian Borchert, Volker Braun, 1976 Silbergelatinepapier, 290 x 195 mm

Wiederaufbau Semperoper

Er hat den Wiederaufbau der Semperoper und den Alltag der DDR festgehalten, hatte Borchert einen eher dokumentarischen als künstlerischen Anspruch?

Das Dokumentarische und das Künstlerische gehen bei Borchert eigentlich immer Hand in Hand. Das Dokumentarische gehörte für Borchert ganz zweifelsohne zum Wesen der Fotografie. Es ist eine ihrer großen Stärken, dass sie Konstellationen von Dingen und Menschen in bestimmten Situationen bildlich festhalten kann. Zugleich aber war es Borchert natürlich immer wichtig, dass seine eigene Praxis des Fotografierens und des Archivierens als eine künstlerische, subjektiv ausgerichtete Tätigkeit verstanden wird und nicht als eine rein buchhalterische Arbeit.

Familienporträts

Die Familienporträts, die vor und nach der Wende entstanden sind: was sagen sie über die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung aus?

Die Gegenüberstellung ermöglich natürlich den Vergleich von vorher und nachher. Man kann hier sehend erkennen, was sich verändert hat und was gleichgeblieben ist. Zudem sind die Bildunterschriften integraler Bestandteil der Werke. Sie liefern wichtige, wenn auch knappe Informationen zu den Dargestellten: die Berufe der Eltern, den Ort und den Zeitpunkt der Aufnahme. So kann man erfahren, ob Leute nach der Wende den Beruf gewechselt haben oder arbeitslos geworden sind. Der Zeitenumbruch zeigt sich auch in der jeweils anderen Atmosphäre der Aufnahmen.

Familienporträts Slider

Interesse an den Arbeiten des Fotografen

Warum erwacht genau jetzt, 19 Jahre nach seinem Tod, das Interesse an den Arbeiten des Fotografen?

Bislang hat es keine große Retrospektive zu Borcherts umfangreichem Werk gegeben – so ist er ein wenig aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden. Ein Stipendium der Volkswagenstiftung hat es nun ermöglicht, dieses Oeuvre neu zu durchleuchten und in einer Reihe von zusammenhängenden Ausstellungen zu präsentieren. Das dreißigjährige Jubiläum der Friedlichen Revolution und des Mauerfalls ist sicher ein idealer Moment für diese Werkschau. Denn es gibt einen breiten öffentlichen Resonanzraum für die Betrachtung und Rezeption seiner Bilder.

Interesse und Überraschungen bei Vorbereitungen

Was hat Sie bei den Vorbereitungen für die Ausstellung(en) besonders interessiert? Was hat Sie überrascht?

Mich hat diese praktische Dimension interessiert, wie man in der DDR ein Leben als freiberuflicher Fotograf führen konnte. Wie man als Person und Künstler um Integrität ringt, welche Zugeständnisse man macht und welche man unter allen Umständen vermeidet. Borchert hat sich Freiräume schaffen können, die seinem Naturell entsprachen, hat aber nie offen aufbegehrt. Überrascht hat mich dann aber doch, dass er, der gemeinhin als ein besonders zurückgezogener und scheuer Mensch geschildert wird, in den späten 1970er Jahren ein besonders umtriebiger und geradezu extrovertierter Akteur in der Fotoszene der DDR war. Er war zum Beispiel Programmleiter der ersten Fotogalerie der DDR, die vom Staatlichen Kunsthandel in der Berliner Karl-Marx-Allee betrieben wurde. Hier hat er es geschafft, ein Programm durchzusetzen, das keine Konzessionen an den staatlichen Auftraggeber macht. Er hat es konsequent abgelehnt, systemtreue Bildreporter auszustellen, obwohl dieser Wunsch an ihn herangetragen wurde. Für ihn galten nur künstlerische Maßstäbe. Eine besondere Entdeckung waren für mich auch seine Aufnahmen der Werke des Bildhauers Georg Kolbe, die fast vergessen waren und die nun in einem Raum im Albertinum zusammen mit einigen Plastiken Kolbes gezeigt werden.

Exemplarisches Bild

Gibt es ein Bild, das für Sie exemplarisch für das Schaffen Christian Borcherts steht? Ein Lieblingsbild?

Ich nenne jetzt ein vielleicht nicht ganz typisches Borchert-Bild: Es ist menschenleer. Trotzdem erzählt es meines Erachtens viel über Borcherts Weltsicht. Es zeigt den Blick durch das Bühnenportal der ruinösen Semperoper in den Zuschauerraum zu Beginn des Wiederaufbaus im Jahr 1977. Im aufgewirbelten Staub und im Gegenlicht verlieren sich die Konturen der zerstörten Zuschauerränge. Es ist für mich gleichnishaft ein Blick zurück in die Geschichte, der gleichzeitig ein Blick nach vorne ist und uns deutlich macht, wie schwierig es ist, Erkenntnis zu gewinnen über die Vergangenheit, aber auch über die Zukunft, die aus dieser Vergangenheit erwächst.

Christian Borchert, Semperoper. Blick durchs Bühnenportal in den Zuschauerraum, 1977
© Kupferstich-Kabinett, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Herbert Boswank
Christian Borchert, Semperoper. Blick durchs Bühnenportal in den Zuschauerraum, 1977 Silbergelatinepapier, 225 x 225 mm, 238 x 240 mm
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